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Diagnostische Möglichkeiten

Vortrag am 20. Juni ‘98 von Karin Russ, Assistenzärztin in der Kinderklinik Kohlhof/Neunkirchen

Der Plötzliche Kindstod oder SIDS kann definiert werden als ein plötzlicher, unerwarteter und weder durch die Vorgeschichte noch durch die Autopsie nach dem Tod erklärbarer Todesfall in der Zeit nach dem ersten Lebensmonat bis zum Ende des ersten Lebensjahres.  

Schon in ägyptischen und römischen Aufzeichnungen sowie in denen des Mittelalters finden sich Berichte über das plötzliche Sterben von Säuglingen und Kleinkindern. Auch in der Bibel wird darüber berichtet, dass der König Salomon richten musste, wem das lebende Kind gehörte, da eins der Kinder von zwei Frauen wohl in der Nacht völlig unerwartet im Bett der Mutter verstorben war. Im Mittelalter wurde der Plötzliche Kindstod auf ein unbeabsichtigtes Ersticken zurückgeführt. Damals bestand daher ein Verbot, Kinder unter drei Jahren nachts mit in das elterliche Bett zu nehmen. Damals wurde der Plötzliche Säuglingstod als Delikt erwähnt, das bis ins 17. und 18. Jahrhundert durch Sanktionen wie Buße, Geldstrafen und sogar Exkommunikation geahndet wurde.  

Erst 1834 wurde erstmals öffentlich daran Zweifel geäußert, dass der Plötzliche Kindstod durch okzidentales Ersticken verursacht wurde. Mit der Reduktion der Säuglingssterblichkeit aufgrund der zunehmend besseren Hygiene- und Gesundheitsbedingungen insgesamt nahm dieses mysteriöse Krankheitsbild immer mehr an Bedeutung zu, da die Todeszahl plötzlich und unerwartet verstorbener Säuglinge nicht zu beeinflussen war.

Sowohl die Tragik des individuellen Geschehens als auch seine sozialmedizinischen Aspekte waren Anlass, sich weltweit mit der Ursache und Pathogenesse des SIDS auseinander zusetzen. Doch auch heute gibt es noch mehr Fragen als Antworten. Ursachen, die zum plötzlichen Kindstod führen, müssen auf funktionellem Gebiet liegen, da ja konventionell klinische und pathologisch-anatomisch nachweisbare Todesursachen ausgeschlossen werden.  

In letzter Zeit wurde beobachtet, dass viele gefährdete Säuglinge vor allem im Schlaf kurze Apnoen oder Atempausen hatten, teilweise mit Symptomen verbunden. Als Extremform der Säuglingsschlafapnoe kann es zum akut lebensbedrohlichen Ereignis (ALE) kommen. Es tritt bei 1,6 von 1000 Säuglingen auf, am häufigsten zwischen der 4. und 8. Lebenswoche.  

Dabei handelt es sich um ein vom Beobachter für das Kind lebensbedrohlich erlebtes Ereignis mit Atempause, Zyanose, Blässe, Muskelhypotonie und Apathie, das nur durch eine massive Stimulation oder durch Wiederbelebungsmaßnahmen beendet werden kann.  

Bei Kindern, die einmal ein akut lebensbedrohliches Ereignis hatten, besteht ein hohes Risiko für den Plötzlichen Säuglingstod. Man vermutet, dass bei diesen Kindern sozusagen eine Unreife des zentralen Steuermechanismus vorliegt. Wenn dann zusätzlich noch andere Faktoren dazukommen, kann es dieses instabile System des Kindes kippen, wobei es dann zu dem fatalen Ereignis kommt.  

Bei vielen Kindern mit ALE, man vermutet über 50-60%, kann auch eine Ursache gefunden werden, wenn entsprechende diagnostische Maßnahmen durchgeführt wurden.

Zunächst wollen wir uns mit einigen Fakten über den Plötzlichen Kindstod befassen:  

  • SIDS ist die häufigste Todesursache im ersten Lebensjahr nach der Neugeborenenzeit  
  • SIDS tritt bei 2-4 Fällen pro 1000 Lebend- geborene auf  
  • Am häufigsten während dem 2. u. 4. Lebensmonat  
  • Jungs sind häufiger betroffen als Mädchen  
  • Am häufigsten in den frühen Morgenschlafstunden und vor allem im Winter  


Es gibt zahlreiche Risikofaktoren, die in großen und umfassenden Studien untersucht worden sind. SIDS kommt häufiger vor bei:  

  • jungen und nicht in festen Bindungen stehenden Müttern  
  • zahlreichen Schwangerschaften in kurzer Folge  
  • Müttern, die nicht sehr viele Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft hatten  
  • bei Komplikationen in der Schwangerschaft und bei vorangegangenen Fehlgeburten  
  • bei rauchenden oder drogenabhängigen Müttern  

Allerdings sind dies nur statistische Zahlen, denn bei vielen Familien besteht kein einziges der genannten Risiken.

Andere Risikofaktoren von Seiten des Kindes können sein:  

  • verzögerte Geburt  
  • Sectio wegen pathologischen Herztönen oder anderen Komplikationen seitens des Kindes  
  • Frühgeborene oder sehr übertragene Kinder  
  • Geburtsgewicht unter 2.500g  
  • Niedriger Apgar-Wert, Sauerstoffmangel  
  • Respiratorische Probleme  
  • Neugeborenen-Infektion oder sonstige Komplikationen in der Neugeborenen-Zeit  
  • Zwillingskinder  
  • und vor allem Geschwister mit SIDS  


Außerdem gibt es noch zahlreiche klinische Faktoren, die auf ein erhöhtes Risiko hinweisen:  

  • wichtigster Faktor ist ein Sterbeanfall  
  • auffällige Blässe  
  • gehäufte, verlängerte Apnoen  
  • erschwerte Erweckbarkeit  
  • verstärktes Schwitzen  
  • auffällig schreckhafte Reaktionen bei Geräuschen und unerwarteten Berührungen  
  • Trinkschwierigkeiten  
  • Bewegungsarmut, sehr ruhige Reaktionslage  
  • Zyanoseanfälle  
  • sehr häufige Infekte der oberen Luftwege  
  • unregelmäßige Atmung in der Einschlafphase (instabiles neurovegetatives System)  


Der Summe der sehr zahlreichen Faktoren nach, kann man schon erkennen, dass eigentlich bisher kein sicheres Zeichen oder Risikofaktor ausgemacht werden konnte, das auf eine mögliche Ursache eines SIDS oder ALE hindeutet.  

Der Plötzliche Säuglingstod bleibt nach wie vor ein Mysterium und eine eindeutige Ursache konnte bisher noch nicht festgelegt werden.  

Dennoch gibt es derzeit weltweit zahlreiche Untersuchungsgruppen, die versuchen, mögliche Ursachen zu untersuchen. Meistens unterliegt man jedoch der Versuchung, „merkwürdige Naturereignisse mit naheliegenden Faktoren zu erklären“, wie schon Goethe es formulierte. Das heißt auch, dass letztendlich bei vielen möglichen Ursachen nicht klar ist, ob es sich um einen Zufall handelt oder tatsächlich eine Relation zur Ursache des SIDS besteht.  
Allerdings kamen zahlreiche Untersuchungen in mehreren Ländern einstimmig zum Resultat, dass das Vorkommen des SIDS deutlich erhöht ist, bei Kindern, die in Bauchlage schlafen. Weshalb das so ist, ist bis heute noch nicht ganz eindeutig, jedoch gibt es einige Studien, die belegen, dass in der Bauchlage bei manchen Kindern eine eindeutige Minderdurchblutung des Hirnstammes vorkommt und dass bei diesen Kindern ein deutlich erhöhtes SIDS-Risiko besteht.  

Aufgrund dessen wurde in vielen Ländern versucht, durch große Kampagnen die Bevölkerung aufmerksam zu
machen auf die verminderte Inzidenz von SIDS bei Kindern, die in stabiler Seitenlage oder Rückenlage schlafen und seither ist das Vorkommen von SIDS deutlich gesunken, da ein guter Teil der SIDS-Fälle diesem Faktor zuzuschreiben sind.  

Es gibt noch zahlreiche, weniger untersuchte und vor allem weniger beeinflussbare Ursachen, u.a.:

  • Überwärmung der Kinder, die evtl. Veränderungen in der Stoffwechsellage hervorrufen können. Man vermutet evtl. eine veränderte Thermoregulation bei den betroffenen Kindern  
  • Erschwerte Erweckbarkeit auf sämtliche Reize, z.B. Sauerstoffabfall, konnte bei vielen Kindern mit ALE festgestellt werden  
  • Man vermutet auch eine positive Beeinflussung von Östrogenen auf die Hirnstammreifung, was evtl. das vermehrte Vorkommen bei Jungen mit erklären könnte.  
  • Durch Infektionen freigesetzte Substanzen im Körper können möglicherweise eine Rolle spielen (z.B. Interleukin-1)  
  • Eine Studie untersucht eine evtl. Relation zwischen Melatoninmangel im Hirnwasser und einer Unreife der Atmungssteuerung im Zentralen Nervensystem (ZNS).  
  • Eine sehr interessante Studie in den USA hat sich damit beschäftigt, dass wohlmöglich eine heute sehr im Trend stehende kalorien- und fettarme Ernährung der Schwangeren eine mögliche Verzögerung der Myelinisation und Reife des ZNS verursachen kann und somit einen SIDS begünstigen könnte.  
  • Mehrere Studien aus verschiedenen Ländern haben nachgewiesen, dass Kinder aus Familien mit Rauchern gefährdeter sind an SIDS zu sterben.  


Außer der Vermeidung der Bauchlage sind unter den vorher genannten möglichen Ursachen leider nur sehr wenige dabei, die beeinflussbar sind. Da jedoch sämtliche Risikofaktoren für einen Plötzlichen Kindstod bekannt sind, ist unsere einzige Waffe, dies zu erkennen und vor allem Kinder mit einem akut lebensbedrohlichen Ereignis adäquat zu untersuchen und nach Möglichkeiten der Überwachung und Behandlung dieser Kinder zu suchen.  

Als erstes ist eine klinische und neurologische Untersuchung des Kindes durch einen Kinderarzt von sehr großer Bedeutung. Sämtliche Deformitäten im Bereich der oberen Atemwege sind auszuschließen, ebenso im Bereich des Thorax mit ausführlicher Untersuchung des Herzens incl. EKG, evtl. auch radiologische Untersuchungen wie Röntgenbild des Thorax und Sonographie.  

Zusätzlich sollte eine gründliche neurologische Untersuchung mit Ausschluss von neuromuskulären Erkrankungen oder Spinalmuskelatrophien erfolgen, inclusive EEG-Untersuchung, welche nach Möglichkeit auch computerunterstützt sein sollte, da die neueren EEG-Geräte doch eine viel genauere Untersuchung der Funktion des Gehirns ermöglichen. Je nach Fragestellung sollten auch bildgebende Maßnahmen des ZNS erfolgen, je nach Indikation z.B. Ultraschall des Gehirns sowie CT oder MRT.  

Eine genaue Überwachung und Beobachtung des Kindes sollte durch geschultes Personal erfolgen, wobei Koordinationsstörungen von Saugen, Schlucken und Atmen oder auch unklare Blässeanfälle beobachtet werden.  

Zusätzlich sollte eine ausführliche laborchemische Diagnostik erfolgen mit Blutgasanalyse, Bestimmung der Schilddrüsenwerte und sämtlicher Stoffwechselparameter sowie virologische bzw. bakteriologische Untersuchungen. Je nach Klinik sollte auch noch ein Schweißtest durchgeführt werden.  

aktuel-1Eine weitere Ursache von Apnoen bei Säuglingen kann auch ein gastroösophagealer Reflux sein. Bei diesem besteht eine Schwäche im Schließmuskel der Speiseröhre und somit kann es zu einem Rückfluss der Mahlzeiten in die Speiseröhre und teilweise auch in die Luftwege kommen, vor allem im Schlaf.  

Aus diesem Grund werden je nach klinischer Symptomatik auch Ultraschalluntersuchungen des Magens und neuerdings auch die 24-Stunden-pH-metrie durchgeführt. Bei dieser handelt es sich um eine kleine Sonde mit Anschluss an einen Computer, die mittels eines kleinen Schlauches in die Speiseröhre gelegt wird. Somit wird während 24 Stunden der pH-Wert gemessen und man kann danach sehr präzise sagen, ob bei einem Säugling ein Reflux besteht, der behandelt werden muss.  

Eine weitere diagnostische Möglichkeit ist die 24-Stunden-Monitorüberwachung (auch kleines Schlaflabor genannt) von EKG, Atmung und Sauerstoffsättigung, die schon seit Jahren Routine bei solchen Kindern ist. Dabei können genaue Aussagen im Laufe von 24 Stunden gemacht werden und somit therapeutische oder Überwachungsschritte eingeleitet werden.
Erst seit kurzem bestehen auch neue Möglichkeiten, den Schlaf bei kleinen Kindern zu untersuchen. Im Hinblick auf den Plötzlichen Säuglingstod ist die Polysomnographie oder das Schlaflabor mittlerweile als zusätzlicher Partner in die umfassende Diagnostik SIDS-gefährdeter Kinder mit aufgenommen worden.  

Dadurch besteht die Möglichkeit, sämtliche Parameter, z.B. die Muskelaktivität, die Atmungsbewegungen des Kindes, der nasale Luftstrom, das EEG etc. gleichzeitig abzuleiten und sie somit miteinander zu vergleichen und deren Wertigkeit zu untersuchen. Bei der Ableitung der kardio-respiratorischen Parameter werden die thorakale und abdominelle Atmung gemessen. Der nasale Luftstrom wird mit einem Fühler, der vor der Nase angebracht wird, abgeleitet. Die Sauerstoffsättigung und Herzfrequenz werden transcutan über einen Fingersensor registriert. Ein gleichgerichtetes Signal von einem Bewegungsaufnehmer reflektiert Körperbewegungen abhängig von der Position des Sensors. Zusätzlich wird ein EKG aufgezeichnet und eine Schlafstadienzuordnung mit Hilfe eines EEG vorgenommen. Zusätzlich wird noch ein EOG und EMG abgeleitet, um Aussagen über den aktiven und den ruhigen Schlaf zu geben.  

Die Schlaflaboruntersuchung dient dazu, festzulegen, wie häufig und wie schwer Apnoen im Schlaf vorkommen. Außerdem erlaubt es eine Einteilung in obstruktive (von den Atemwegen ausgehenden) und zentrale Apnoen, deren Ursache darin zu suchen sind, dass der Hirnstamm keine Atemimpulse sendet.  

Eine Differenzierung in diese zwei Gruppen ist sehr wichtig, da es teilweise, je nach Klinik des Kindes und der Häufigkeiten der Apnoeanfälle eine objektive Hilfe zur Bestimmung der Therapiemöglichkeiten sein kann. In gewissen Fällen besteht die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung. Außerdem kann über die Notwendigkeit einer Heimmonitorversorgung entschieden werden.
Natürlich stellen alle oben erwähnten Untersuchungsmöglichkeiten nur Momentaufnahmen dar.
Wir wissen jedoch, dass immer mehrere Faktoren zusammenkommen müssen, um das instabile System des Kindes zu kippen. Diese z.B. umwelt- oder infektabhängige Zusatzfaktoren können in den auch besten Untersuchungen nicht erfasst werden. Somit gibt es keine 100% sichere Methode um einen SIDS vorauszusagen oder zu vermeiden.  

Die vorher genannten Untersuchungsmöglichkeiten stellen jedoch Bausteine dar, die zusammen zu einer Einschätzung des Risikos des untersuchten Kindes führen können, und somit den Eltern konkrete Hilfeleistungen gestellt werden können, wie z.B ein Heimmonitor.
Hier bleibt allerdings zu vermerken, dass ein Heimmonitor alleine nicht vor einem SIDS schützt. Er trägt lediglich zur frühen Diagnose eines akut lebensbedrohlichen Ereignisses bei, wobei die in Reanimation geschulten Eltern eine Möglichkeit haben, frühzeitig einzugreifen.
Somit besteht trotz der bisher noch so vielen Unsicherheiten und unklaren Ursachen und Symptomen bei ALE und SIDS Ereignissen für die betroffenen Eltern zumindest doch eine kleine Unterstützung beim Umgang mit diesem Phänomen.